Was, wenn eure Konflikte gar nicht das Problem sind?

Ein Porträtfoto von Lucas Forstmeyer, einem Coach und Kursleiter. Er trägt eine Brille, einen Bart und hat seine Haare zu einem lockeren Dutt gebunden. Er trägt ein blaues Oberteil und schaut freundlich in die Kamera.
Lucas Forstmeyer

Viele klassische Therapieansätze – und auch viele Paare – glauben, dass sie ihre Beziehung „in Ordnung bringen“, indem sie ihre Konflikte endlich lösen. Sie glauben, dass Paartherapie und Paarberatung genau dafür da ist: Konflikte zu lösen!

  • „Wenn sie aufhören würde, alles so persönlich zu nehmen, könnten wir normal reden.“
  • „Wenn ich an meinem inneren Kind arbeite, wird es zwischen uns leichter.“
  • „Wenn er sich mal zusammenreißen würde, könnten wir eine gute Zeit haben.“
  • „Wenn sie nur wüsste, wie sehr mich das verletzt, würde sie das lassen.“

Doch die Forschung von John Gottman, mit mehr als 3000 Paren sagt klar: "Das ist ein Mythos."

69 % aller Paarkonflikte lassen sich nicht lösen

In über 40 Jahren Forschung hat er gezeigt, dass 69 % aller Beziehungskonflikte nicht lösbar sind. Nicht durch innere Arbeit oder unendliche Konfliktgespräche. Sie sind nicht das Resultat eines Fehlers, Traumas oder Missverständnisses – sondern Ausdruck tief verankerter Unterschiede:

  • Persönlichkeitsstruktur
  • Lebensrhythmus
  • Bedürfnis nach Nähe oder Autonomie
  • Reizverarbeitung
  • Ordnung, Sprache, Prioritäten

Gottman nennt diese Themen perpetual problems (dauerhafte bzw. un-endliche Probleme). Und er sagt unmissverständlich:

„Therapeuten scheitern oft, wenn sie versuchen, diese Probleme zu lösen. Was hilft, ist zu lernen, wie man darüber spricht, ohne sich gegenseitig zu verletzen.“(Gottman Handbuch Ausbildung Level 2)

Eine geerdete Perspektive auf Paar-Arbeit muss diese Perspektive einbeziehen

Wir müssen dauerhafte Probleme anerkennen, um als Paar einen Weg vorwärts zu finden. Das klingt im ersten Moment fast ein wenig niederschmetternd:„Wie – der Großteil unserer Probleme lassen sich nicht lösen?“ Leider ja. Und es ist nicht hilfreich oder ethisch, etwas anderes zu versprechen. Und genau hier braucht es eine entscheidende Unterscheidung. Denn was wir „Problem“ nennen, besteht oft aus zwei Ebenen:

  1. Dem Reibungspunkt selbst:Sie braucht mehr Nähe, er mehr Raum. Er will mehr Sex, sie braucht emotionale Verbindung. Einer plant, der andere improvisiert.
  2. Dem Umgang mit dem Reibungspunkt:Können wir darüber sprechen? Kann ich deine Perspektive anerkennen, ohne sie als Bedrohung zu erleben? Fühlst du dich gesehen, auch wenn ich nicht einverstanden bin?

Und genau auf dieser zweiten Ebene entscheidet sich, ob eine Beziehung lebendig bleibt oder sich festfährt. Nicht ob ihr Unterschied da ist – sondern, wie ihr damit umgeht.

Eine reife Beziehung basiert auf Anerkennung

Als Paar müssen wir anerkennen, wo wir unterschiedlich sind:

  • Wo hat meine Partnerin andere Vorlieben als ich?
  • Was fällt meinem Partner schwer in der Kommunikation?
  • Welche Standardreaktionen hat er, die mich triggern?

Und dann müssen wir die bittere Pille schlucken: Viele dieser Dinge werden in irgendeiner Form bleiben. Und ja, das beinhaltet Muster, die dauerhafte Konfliktherde und Herausforderungen mit sich bringen:

Sarah ist sehr sensibel für emotionale Distanz und fühlt sich schnell unsicher, wenn Daniel kurz angebunden ist. Hans fühlt sich davon oft eingeengt. Dies kann immer wieder zu Konflikten führen.

Hans reagiert oft direkt, wenn etwas für ihn nicht passt – mit Einwand statt Zustimmung. Für Sarah fühlt sich das wie ein ständiges „Nein“ an. Sie sehnt sich nach mehr Resonanz. Und fragt sich manchmal: Warum ist es so schwer, einfach mitzugehen?

Viele dieser Muster sind tief unserer Biologie und unserem Temperament verankert. Es gibt keine "Heilung" oder plötzliche Transformation dieser. Unser Job als Paar ist es nicht, unsere Unterschiede zu beseitigen – sondern zu lernen, wie wir mit ihnen leben können.

Das bedeutet: Wir müssen unsere natürlichen Reaktionen, Gewohnheiten und Impulse so lenken, dass sie in unser gemeinsames System passen. Nicht perfekt, aber beziehungsfähig. Ist das leicht? Nein. Aber wenn es gelingt, passiert etwas Besonderes: Die Konfliktpunkte sind noch da – aber sie fühlen sich nicht mehr bedrohlich an.

Sie sind vertraut. Fast schon Teil eurer Sprache. Manchmal nervig, aber nicht mehr trennend.

Dauerhafte Unterschiede sind nicht das Problem. Unser Umgang mit ihnen ist es.

In jeder Beziehung gibt es Punkte, an denen es immer wieder Reibung gibt. Das ist nicht pathologisch. Das ist Beziehung.

Der Job eines Paares ist nicht, diese Reibung „wegzuarbeiten“. Sondern: eine Kultur zu entwickeln, in der sie nicht eskalieren muss. Wo keiner dauerhaft enttäuscht, übersehen oder kritisiert wird. Wo es möglich ist, immer wieder ins Gespräch zu kommen – nicht über Schuld, sondern über Bedeutung.

Kleine Bemerkung zu innerer Arbeit

Ich will damit nicht sagen, dass innere Arbeit nichts bringt. Ja – durch Therapie, Reflexion, Körperarbeit oder Achtsamkeit können wir Wunden heilen, Trigger abmildern und inneren Halt aufbauen.

Aber: In meiner Erfahrung verändern sich Menschen dadurch nur selten fundamental.

  • Ein Mensch mit starkem Rückzugsimpuls wird vielleicht schneller wieder zugänglich – aber Rückzug bleibt Teil seines Nervensystems.
  • Ein sensibler Mensch lernt vielleicht, besser für sich zu sorgen – aber wird nie völlig unberührbar.
  • Und ein introvertierter Mensch kann lernen, sich zu zeigen – aber nicht plötzlich von sozialen Situationen auftanken.

Innere Arbeit kann helfen, unsere Reaktionen weicher zu machen. Aber sie verändert selten die Struktur.

Und deshalb bleibt Beziehung immer ein Raum, in dem wir miteinander navigieren lernen müssen – nicht erst nach der Heilung.